Wie wir jetzt alle wissen sollten, ist das Abitur nicht irgendein Wisch, den man sich halt mal so abquält und den man eben braucht, um schlauer zu sein als der Rest der Welt, sondern es ist ein Zeugnis der Reife.
Da wir es also alle (hoffentlich) mehr oder weniger geschafft haben, sind wir jetzt reif und können vom Stamm fallen - die einen mehr, die anderen weniger weit - bevor uns die Würmer anknabbern.
Was daran sehr seltsam ist, ist die Tatsache, daß da bezüglich des Grades an Reife trotzdem noch Unterschiede gemacht werden. (Ich zum Beispiel gehöre demnach wohl den etwas weniger Reifen an)
Nun stellt sich mir die obskure Frage, was das denn nun eigentlich sein soll, dieses "Reif sein"? Da man das wohl so leicht nicht beantworten kann, zäume ich also zunächst den Gaul von hinten auf und frage: Was heißt denn "nicht reif sein"?
Dies wiederum weiß ich, weil meine Mutter es mir schon tausendmal vorgeworfen hat (Obwohl mir die Reife doch jetzt bescheinigt wird). Unreif ist z.B.:
Wenn man unordentlich ist; sein Geld nicht spart; zu schnell Auto fährt (womöglich noch ohne Gurt); wenn man zuviel fernsieht; immer noch glaubt, daß man mehr für die Schule als fürs Leben lernt; daß man auch ohne Banklehre und gesicherte Existenz glücklich leben kann, und daß Arbeit irgendwas mit Spaß zu tun haben sollte; wenn man Haschisch raucht oder gar onaniert; wenn man den Sinn von familiärer Integration nicht so ganz mitbekommen hat, oder von Rasenmähen, oder von Krawatten; wenn man mit 20 immer noch keine Frau hat, sich nicht rasiert und sich nicht ordentlich zu kleiden vermag, usw. Manch einer oder eine wird das alles kennen (und noch viel, viel mehr).
Von dieser Art "Reife" kann also nicht die Rede sein, denn wir haben unser Reifezeugnis, obwohl wir insgeheim noch dem einen oder anderen dieser Laster frönen.
Vielleicht ist also das Reifeverständnis meiner Alten ein ganz furchtbar bürgerliches, das in keiner Relation zu den hohen Idealen steht, welche die Ziele unserer präakademischen Bildung darstellen. Na schön, wenn es nicht die bürgerliche Reife ist, die ich jetzt offiziell für mich beanspruchen darf, welche ist's denn dann?
Vielleicht ist in diesem Sinne reif für die große weite Welt, wer rundum auf sämtlichen Wissensgebieten bewandert und gebildet ist.
Allerdings ist Einbildung auch 'ne Bildung, und ich kann mir nicht vorstellen, daß sich irgendeiner einbildet, ich hätte seit der zehnten Klasse noch irgendwas dazugelernt - außer wie man mit einigermaßen funktionierendem Kurzzeitgedächtnis und ohne auch nur die geringste Spur von Fleiß trotzdem sein Abi bekommt.
Na gut, ich kann lesen und einigermaßen schreiben, und einen Taschenrechner kann ich auch bedienen. Ich kann mich auf Steinzeitniveau mit englischsprechenden Menschen verständigen und meine Schuhe selbst zubinden.
Allerdings fällt es mir schwer, in Frankreich einen Kaffee zu bestellen - Prozentrechnung hat für mich nahezu relativitätstheoretische Dimensionen, ganz zu schweigen vom Unterschied zwischen Methanol und Alkohol (Oh mein Gott! Der Abtipper), den unergründlichen Wegen elektrischen Stroms oder dem Unterschied zwischen Impressionismus und Expressionismus.
Außerdem weiß ich weder, wie eine Inflation funktioniert, noch, wer den 30jährigen Krieg angezettelt hat. Und trotzdem bin ich jetzt reif!
Ein hohes Maß an Allgemeinbildung ist also ebenfalls nicht der Sinn des Abiturs. Vielleicht muß man eher auf philosophisch-aufklärerischem Wege an die Sache rangehen (ganz im Sinne des Namengebers unserer schönen Schule).
Demnach wäre es nicht das bloße Wissen, was zählte, die reine Akkumulation purer Information, sondern die Reifung des kindlichen Gemütes hin zum menschlichen Geiste, die den Schüler vom bloßen Existieren in der Form des lenkbaren, instinktgeleiteten Tieres mit der größten Gehirnrindenoberfläche, zum wahren Leben in vollem Bewußtsein seiner Individualität und Persönlichkeit leiten soll.
Vielleicht zeugt ja meine Fähigkeit, mir einen derart idiotischen, völlig überladenen Satz aus den Fingern zu saugen, von meiner wahren Reifung zum aufgeklärten menschlichen Individuum, aber das möchte ich direkt selbst bezweifeln.
Hierbei (Scheiße!) wirft sich auch gleich wieder ein neues Problem auf: Was ist denn ein aufgeklärtes Individuum?
Es ist jedenfalls nicht besonders individuell, wenn man sich für mehr oder weniger teures Geld mit häßlichen Einheitsklamotten uniformiert, sich dann widerspruchslos in eine der vielen sogenannten Jugendkulturen einordnet, die diverse Musik-Mode-Branchen für jeden zahlungskräftigen Jugendlichen kreiert haben und die sich dadurch definieren, daß sie spezielle einheitliche Musik-und Klamotten-Richtlinien befolgen und immer schön ihre dafür vorgesehenen Etablissements bevorzugen. Es ist ebenfalls ziemlich überhaupt nicht individuell, wenn man sämtliche üblichen Wertvorstellungen -seien sie von Mami und Papi, von MTV oder von der DVU - ohne groß zu überlegen, einfach übernimmt (auch wenn sie völlig veraltet sind) und zum Beispiel BWL studiert, weil man damit Geld für Frau, Heim und Kinder verdienen kann, obwohl man eigentlich viel lieber Bilder malt, als Bilanzen zu schreiben.
Es ist auch nicht sehr menschlich, sich irgendwelche armen Schweine aus der Masse zu picken, und deren unangenehme Eigenschaften dadurch zu steigern, indem man sie im Jahrgang systematisch so schlecht macht, daß ihnen keiner glauben würde, daß sie eigentlich ganz normal sind - selbst wenn sie es wären-oder mit Kerzchen und Teelichtern in irgendwelchen Lichterketten zu glänzen, um danach in der Kneipe Judenwitze zu reißen. Oder gegen den Golfkrieg zu demonstrieren, obwohl einem derselbe absolut scheißegal ist - abgesehen davon, daß es witzig ist, dafür ganz gerechtfertigt die Schule zu schwänzen- und das amerikanische Desert-Storm Computerspielchen jeden Tag live mit Bombengedonner auf der Mattscheibe anzugucken.
Es ist auch relativ unmenschlich, für ein paar Punkte seine Kumpels und -innen in Grund und Boden zu buttern und die Schule wichtiger zu nehmen, als zwischenmenschliche Beziehungen.
Desweiteren ist es nicht sehr aufgeklärt, den Lehrer einfach schwätzen zu lassen und alles, was dieser sagt, schön abzupinseln und auswendig zu lernen, obwohl man eigentlich denkt, daß er nur Bockmist verzapft, und, statt richtig das Maul aufzumachen, nur irgendwelche vorher gelernten Phrasen drischt. Es ist wiederum auch nicht aufgeklärt, wenn man sich nicht im geringsten darüber Gedanken macht, warum ein Lehrer krampfhaft versucht, einem mehr abzuringen, als wiedergekäute, auswendiggelernte Formeln - und man auch nicht die Spur von Anstrengung unternimmt, seinen Verstand nicht als Read-Only-Memory-Leseeinheit zu mißbrauchen, sondern sich vielleicht ein ganz kleines bißchen auf wirklich eigene Gedankengänge einzulassen und dem armen alten Lehrkörper ein bißchen das Gefühl zu geben, er habe seine Aufgabe halbwegs erfüllt. Überhaupt bewegt man sich kein Stück aus "seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit", indem man sich einfach vom Bildungssystem schlucken läßt und ungefähr genauso freiwillig und aus eigenem Willen in die Schule geht, wie die Kuh zum Metzger - oder besser das Brot in die Röhre. Ohne Spur von Reflexion darüber, was da im Backofen eigentlich mit einem passiert und welchen tieferen Sinn das ganze vielleicht eventuell noch irgendwo haben könnte - außer einem den Passierschein ins heilige Reich der Hochschulen und Universitäten zu liefern.
Man läßt sich lieber (wie die Kuh) in kleine Schnitzelchen zerhacken und für teures Geld verkaufen.
Okay, dieser Vergleich hinkt zwar ein wenig, aber im Rahmen meines Nachdenkens über die Bedeutung des Wortes "Reifeprüfung" bin ich der Lösung noch keinen Meter näher gekommen, denn irgendeines dieser oben genannten Beispiele trifft in gewisser Art und Weise für jeden von uns zu (Wer das Gegenteil behauptet, muß ein Genie sein). Ich sag ja nicht, daß das ganz furchtbar ist (obwohl es das wohl sein sollte), daß ich demnach also auch kein aufgeklärtes menschliches Individuum bin, aber es bleibt immer noch die Frage, warum ich Abitur hab' und meine alte Mutter nicht? Vielleicht bin ich jetzt nach nunmehr 14 Jahren Lug und Betrug einfach reif für die Insel, oder für die Entzugsanstalt, weil der Alkoholkonsum mit zunehmender Verweildauer in dieser Anstalt, ob des wachsenden Bewußtwerdens der eigenen, abgrundtiefen Schlechtigkeit, Faulheit und Unaufgeklärtheit, doch mittlerweile bedenklich angestiegen ist. Oder aber: Jetzt, wo ich weiß, daß Aufklärung und der ganze Scheiß sowieso nichts als eine schöne, aber trotzdem utopische Utopie ist, bin ich einfach reif für den Schock, der mir beim letztendlichen Einstieg in des Lebens Ernst die Erkenntnis einjagen wird, daß ich wohl nie wieder so nah an dem Ausweg aus meiner selbstverschuldeten Unmündigkeit sein werde, wie ich es am Ende meiner schulischen Laufbahn bin und daß ich mich zwangsläufig mit jedem Schritt, den ich in die große, böse, weite Welt tue, weiter davon entferne, bis ich am Ende ein Einfamilienhaus, 'ne Frau und drei Bälger, einen hübschen Mittelklassewagen und 'nen sicheren Job als Kaufmännischer Angestellter mein Eigen nennen darf, mit meinen alten Schulkameraden in den Kegelclub gehe und sexistische Witze reiße,...
Samstags mähen meine Kinder den Rasen und meine Frau kocht uns was leckeres. Dann gehen wir ein bißchen wandern oder radfahren. Im Sommer geht's nach Ibiza oder Mallorca (für Hawaii reicht's leider finanziell nicht) und ich besitze ein putziges kleines Schrebergärt-lein. Irgendwann (so ungefähr 3 Sekunden vor meinem Tod an Altersschwäche oder Leberzirrhose) werde ich mir dann dankbar das Antlitz meiner Mutter vor Augen rufen und ihre mahnenden Worte werden aus ferner Vergangenheit wie leise Musik in meinen Ohren klimpern: "Du wirst schon noch vernünftig werden, wenn de ersdemal dai aische Gäld verdine mußd..." Und ich werde leise weinen und denken: "Ja, Mutter, dein Wille geschehe..."
P.S.:
Ich wollte natürlich mitnichten hiermit das Gerücht schüren, 99% dieser Jahrgangsstufe seien hirnlose Zombies. Es sind bestimmt nur 97-98%.
P.P.S.:
Vielen Dank an die Lehrer (innen), die uns trotzdem noch als verstand und vernunftbegabte Lebewesen zu akzeptieren versucht haben.
P.P.P.S.:
Tod, Pest, Aids und Verderben wünsche ich den Lehrern, die kräftig dabei mitgeholfen haben, uns zu verblöden und die wohl der Meinung sind, daß der Beruf des Lehrers ein ganz gewöhnlicher sei. So wie Betriebswirt - oder Straßenkehrer.